Manchmal kann der Arbeitgeber trotz Krankheit kündigen


Das Bundesgericht hat in einer seit langem umstrittenen Frage entschieden

In den letzten Jahren hat die Zahl der Fälle arbeitsplatzbezogener Arbeitsunfähigkeit zugenommen. Diese Situationen, in denen Arbeitnehmende grundsätzlich arbeitsfähig sind, jedoch nicht in dem Unternehmen, in dem sie angestellt sind, stellen für Arbeitgebende oft eine erhebliche Herausforderung dar. Das Bundesgericht hat kürzlich entschieden, dass eine Kündigung in solchen Fällen zulässig ist.

Ist eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer krankgeschrieben, kann der oder die Arbeitgebende in der Regel keine Kündigung aussprechen. Gemäss Obligationenrecht ist der Kündigungsschutz jedoch nicht unbegrenzt, sondern richtet sich nach den Dienstjahren: 30 Tage Schutz im ersten Dienstjahr, 90 Tage vom zweiten bis und mit fünftem Dienstjahr und 180 Tage ab dem sechsten Dienstjahr. Einige Gesamtarbeitsverträge (GAV) gehen noch weiter und untersagen eine Kündigung, solange die oder der Arbeitnehmende volle Versicherungsleistungen erhält. Dies gilt insbesondere für den GAV des Westschweizer Baunebengewerbes und den GAV des Garten- und Landschaftsbaus der Kantone Freiburg, Neuenburg, Jura sowie Berner Jura. Der GAV der schweizerischen Gebäudetechnikbranche, der GAV der schweizerischen Elektrobranche und der GAV des schweizerischen Metallgewerbes sehen ebenfalls einen erweiterten Kündigungsschutz vor, allerdings erst ab dem zehnten Dienstjahr.

Kontroverse

Der Schutz vor Kündigung zur Unzeit soll verhindern, dass eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer die Stelle zu einem Zeitpunkt verliert, an dem sie oder er kaum Chancen hat, eine andere Stelle zu finden. Es stellt sich jedoch die berechtigte Frage, ob dieser Schutz auch dann greifen soll, wenn die betreffende Person problemlos eine andere Arbeitsstelle finden könnte, weil sie nämlich nicht daran gehindert ist, bei einem anderen Unternehmen zu arbeiten. Die Deutschschweizer Gerichte neigten eher dazu, den Schutz abzuleh nen, während die Westschweizer Gerichte dazu tendierten, sich dafür auszusprechen. Auch unter Expertinnen und Experten wurde diese Frage kontrovers diskutiert

Entscheid des Bundesgerichts

In seinem Urteil vom 26. März 2024 (1C_595/2023) hat das Bundesgericht diese Frage geklärt. Laut unserem höchsten Gericht ist der Kündigungsschutz «im Falle einer Krankheit nicht anwendbar, wenn die Gesundheitsbeeinträchtigung derart unbedeutend ist, dass die Arbeitnehmerin oder der Arbeitnehmer trotzdem eine neue Arbeitsstelle antreten kann; davon geht die Rechtsprechung aus, wenn eine arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit vorliegt». Konkret bedeutet dies: Das Unternehmen kann eine Kündigung aussprechen, wenn die Arbeitsunfähigkeit der betroffenen Arbeitnehmerin oder des betroffenen Arbeitnehmers eng mit dem Arbeitsplatz im Unternehmen verbunden ist und weder die Arbeitsfähigkeit bei einer oder einem anderen Arbeitgebenden noch das Privatleben dadurch beeinträchtigt sind. Eine derartige Situation tritt häufig im Zusammenhang mit Konflikten am Arbeitsplatz auf. Aber Vorsicht: Diese Rechtsprechung ist kein Freibrief. Arbeitgebende müssen die Gesundheit ihrer Beschäftigten schützen. Ist diese Pflicht verletzt und wird eine Arbeitnehmerin oder ein Arbeitnehmer dadurch krank und der Arbeitsvertrag gekündigt, ist es gut möglich, dass die Kündigung als missbräuchlich beurteilt wird.

Keine allgemeine Anwendung

Es ist auch zu beachten, dass diese Rechtsprechung nur für arbeitsplatzbezogene Arbeitsunfähigkeit (auch funktionelle Arbeitsunfähigkeit genannt) gilt. Diese Form der Arbeitsunfähigkeit wird in der Regel im Arztzeugnis vermerkt. Im Zweifelsfall kann die oder der Arbeitgebende die Ärztin oder den Arzt um zusätzliche Erläuterungen bitten. Liegt hingegen eine allgemeine Arbeitsunfähigkeit vor, die es der betroffenen Person auch in einem anderen Unternehmen verunmöglicht zu arbeiten, gilt der allgemein bekannte ordentliche Kündigungsschutz.

Sind Sie an juristischen Themen interessiert?


Abonnieren Sie unseren Newsletter, indem Sie das untenstehende Formular ausfüllen

*“ zeigt erforderliche Felder an